Ich geb’s ja zu: Altbau hat einen gewissen Charme. Die schönen hohen Decken mit Stuck und die Parkettfußböden haben anfangs auch mich gelockt. Doch als ich vor knapp zehn Jahren nach Berlin gezogen bin und nach einer Altbau-Wohnung gesucht habe, kam die Ernüchterung.
Die Besichtigungs-Odyssee
Wie so viele andere Zugezogene in Berlin wollte auch ich unbedingt in einer Altbau-Wohnung wohnen. Zu mehr als einer Einraumwohnung hat es damals nicht gereicht, aber egal, Hauptsache Altbau! Ich begab mich also auf die Suche und habe etliche Wohnungen besichtigt. Vor allem eine Besichtigung ist mir dabei in Erinnerung geblieben: Ich hatte mir eine Einraumwohnung in einem hippen Berliner Stadtteilangesehen. Genauso wie 30 (!) andere Menschen. Darunter waren sogar ein paar Pärchen. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss. Das Zimmer war dunkel wie die Nacht. Es war übrigens Sommer und vor der Wohnung standen die Mülltonnen. Wie die Luft roch, die durch das einzige Fenster der Wohnung wehte, können Sie sich bestimmt denken. Nein danke, dachte ich mir, und bin gegangen.
Wo haben sich die schönen Altbauten versteckt?
Auf Bildern sehen Altbau-Wohnungen immer so traumhaft aus: strahlend weiße Wände, glänzender Parkettboden, gepflegtes Treppenhaus. Als ich sie mir aber vor Ort genauer angesehen habe, war derZauber schnell verflogen. Keine einzige der unzähligen Wohnungen, die ich mir angeschaut habe, war überhaupt saniert. Ich habe Parkettfußböden gesehen, die so stark abgetreten waren, dass ich Angst hatte, einzustürzen. Wussten Sie, dass die Modernisierungsrate bei Altbau-Mehrfamilienhäusern in den vergangenen Jahren lediglich bei knapp über einem Prozent lag? Wozu auch, genug Nachfrage auch nach unsanierten Wohnungen gibt es ja.
Meine Freunde, die tatsächlich eine Altbau-Wohnung ergattern konnten, haben mich dann endgültig vom Kurs abgebracht. Sie erzählten mir Schauergeschichten von porösen Wänden, die sich in Luft auflösten, als man es wagte, ein Loch hinein zu bohren. Altbauten sind tatsächlich bipolar: Entweder zu feucht oder zu trocken. Schimmel können Sie daher auch oft zu Besuch haben. Denn durch die hohen Decken und die schlechte Isolierung ist es sehr schwierig, die Räume überhaupt richtig zu beheizen. Ich habe eine Freundin, die im Winter mit drei Kuscheldecken in ihrem Wohnzimmer sitzt, weil ihr so kalt ist. Obwohl die Heizungen auf voller Stufe laufen.
Guter Altbau, schlechter Altbau
Eine andere Freundin erzählte mir von der berühmten Hellhörigkeit der Altbauten. Vom Treppenhaus, bis zu den Nachbarn über, unter und neben ihr, hört sie alles. Sie findet es aber nicht immer schlimm. Für sie ist es fast wie der Podcast einer täglichen Soap. Entscheidend für die Atmosphäre sind aber auch die Nachbarn. Wer unbedingt in einen angesagten Stadtteil wie Friedrichshain ziehen möchte, hat meist auch hippe Nachbarn. Und die haben manchmal keine Hemmungen, nachts um drei noch die Bongos für eine spontane Jamsession rauszuholen. Die Polizei zu rufen traut sich aber keiner. Denn wer will schon als uncool gelten.
Eine sanierte Altbau-Wohnung hat durchaus ihren Reiz.
Ist ein Altbau das Statussymbol für Erfolg?
Aber seien wir mal ehrlich: Altbau-Wohnungen sind doch heutzutage nichts weiter als Statussymbole. Wer was auf sich hält, muss eine Wohnung mit hohen Decken und Stuck haben. Keine andere Wohnung bietet diese einmalige Wohnatmosphäre. Keine andere Wohnung strahlt aus, dass man es geschafft hat. Und wer ist denn sonst schon bereit, diese horrend hohen Mieten für den „Charme“ zu zahlen? Aber ja, ich kann die Altbau-Bewohner schon irgendwie verstehen. Wenn man von diesen Unmassen an Wohnungsinteressenten tatsächlich als der eine Mieter auserwählt wurde, fühlt sich das sicher wie ein Sechser im Lotto an. Umso stolzer ist man dann auf die Wohnung - trotz ihrer Macken.
Glücklich auch ohne Altbau
Warum wollte ich damals unbedingt in einem Altbau wohnen? Ich weiß es nicht mehr. Mittlerweile wohne ich in einem Hochhaus in Berlin-Mitte mit einer traumhaften Isolierung. Dort gibt es auch hohe Decken. Und Wände, die so dick sind, dass sich die Bohrmaschine vom Nachbarn wie ein Bienensummen anhört. Ich habe meine Ruhe und das finde ich schöner als Stuck.
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